Editionen sind wie aus Glas gemacht – genau dann, wenn sie glänzen, zerbrechen sie.
Inspiriert ist dieses Bild von einem Spruch über die Fortuna, der auf Publilius Syrus (1.
Jh. v. Chr.) zurückgeht. Ein anderes Sprichwort, diesmal aus dem Italienischen,
lautet: „Wer zu viel will, dem/der schwindet alles“ („chi troppo vuole nulla
stringe“). Solche alten Lebensweisheiten scheinen noch heute zu vermitteln, dass
Mittelmaß der sicherste Weg sei. Doch bedeutet dies, dass die Digital Humanities – und
in diesem spezifischen Fall die digitale Philologie – auf Glanz verzichten sollten?
Im Kontext von Strategien zur Bewahrung digitaler wissenschaftlicher Editionen ist oft
von der Nutzung standardisierter Technologien die Rede: etwa TEI-XML für die
Modellierung, statisches HTML für die Veröffentlichung. Auch wird häufig empfohlen,
auf komplexe Funktionalitäten zu verzichten, da deren Wartung aufwendig sei.
Theoretisch klingt das alles sehr sinnvoll – und man könnte meinen, das Problem der
Kurzlebigkeit digitaler Editionen sei damit zumindest teilweise gelöst.
Doch diese Ansätze verkennen wesentliche Aspekte, die im Kern der disziplinären Praxis
liegen:
1. Oft bestimmt das Material die Form: Nicht alle Texte sind linear, hierarchisch
organisiert oder folgen einem sequentiellen Prinzip (Abschnitt A, B, C in Folge) –
und es gibt mehr als „nur“ Text. In dieser Keynote stelle ich das Genre der
Losbücher vor – interaktive Bücher/Spiele an der Grenze zwischen Wissenschaft
und Magie, die in der Spätantike und im Mittelalter zur Zukunftsdeutung
verwendet wurden.
2. Wissenschaft entwickelt sich, so Karl Popper, durch sukzessive Falsifikation.
Wenn XML über Jahre hinweg der Standard für Textkodierung war, so bringt der
wissenschaftliche Fortschritt alternative Ansätze hervor, die einerseits aus
methodischen Entwicklungen hervorgehen und andererseits diese selbst
vorantreiben. Ich zeige anhand aktueller Beispiele, wie Graphentechnologien
gleichzeitig das in den TEI-Guidelines kodierte Wissen aufnehmen, zugleich aber
auch neue Möglichkeiten eröffnen, die über das OHCO-Modell, auf dem XML
basiert, hinausgehen.
3. Wissenschaft funktioniert nicht ohne Geld: Wer Drittmittel beantragt, muss in der
Regel Innovation versprechen. Je innovativer ein Projekt, desto größer die
Aussicht auf Förderung. Innovation kann aber auch Instabilität bedeuten.
Es sind also materielle (quellenbedingte), methodische und ökonomische Gründe, die
es geradezu notwendig machen, dass digitale Editionen weiterhin „zu viel“ wollen.
Die digitale Philologie hat sich von Beginn an auch durch die Möglichkeiten des
gewählten Mediums von der traditionellen Philologie unterschieden. Die Grenzen des
Digitalen sind vielleicht nicht so greifbar wie die eines Buchblatts – aber sie sind da. Sie
sind jedoch eher eine ferne Bedrohung, die man nicht ernst genug nimmt. Daher braucht
es Klarheit: Welche Grenzen existieren wirklich? Gibt es Raum für Kompromisse?
Gerade Veranstaltungen wie diese Konferenz bieten den Raum, um gemeinsam zu
reflektieren, wie sich der zukunftsgewandte Impuls der Fachwissenschaften mit der
durch Nachhaltigkeit motivierten Bewahrungsperspektive versöhnen lässt – damit wir
die Zukunft der digitalen Philologie und der Digital Humanities nicht dem Zufall, dem
Glück oder einem unbekannten Schicksal überlassen müssen.