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Soziale Ungleichheit und Selektion bei Schulübergängen (Einzelbeiträge)
Präsentationen
Schulische Übergänge als Selektionsarenen. Ethnografische Einblicke in die Praktiken der Platzanweisung beim Übertritt in die Sekundarstufe I
Hofstetter, Prof. Dr. Daniel
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich
Mein Beitrag fokussiert Übergänge im Bildungssystem als zentrale Momente sozialer Selektion. Am Beispiel des Übergangs von der Primarstufe in die Sekundarstufe I analysiere ich, wie Selektionsprozesse nicht einfach auf gerechte Weise durch Leistung erfolgen, sondern durch situative Aushandlungen zwischen Lehrpersonen, Eltern und schulischer Organisation geprägt sind. In einer dreijährigen ethnografischen Feldstudie habe ich schulische Selektionsverfahren in der Schweiz beobachtet, insbesondere Gespräche, Bewertungen und schulinterne Entscheidungspraktiken (Hofstetter 2017).
Die Ergebnisse zeigen, wie in diesen Übergangssituationen Leistung als soziale Praxis erzeugt, legitimiert und naturalisiert wird. Dabei geraten Normalitätsstandards, institutionelle Routinen sowie implizite Klassifizierungslogiken in den Blick, die Kinder je unterschiedlich adressieren und reproduktiv auf soziale Herkunft reagieren. Diese Analyse knüpft an bildungssoziologische Grundüberlegungen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch schulische Auslese an (Bourdieu & Passeron 1971) und verbindet sie mit aktuellen Debatten um meritokratische Logiken, Bildungsungleichheit und Inklusion. Sie macht sichtbar, wie sogenannte „unsichere Fälle“ in organisationalen Kontexten zu Manövriermasse werden und wie Übertrittsentscheidungen im Schulalltag zustande kommen und legitimiert werden.
Mit Blick auf das Tagungsthema verstehe ich schulische Übergänge als performative Arenen, in denen soziale Ungleichheit im Spannungsfeld zwischen pädagogischem Anspruch, struktureller Erwartung und organisationaler Zweckmässigkeit aktiv hervorgebracht wird. Mein Beitrag gehört zum Themencluster „Transitionen im Schulalter“ und unterstreicht die Notwendigkeit einer professionellen Reflexion pädagogischer Praxis im Umgang mit Übergängen (Meuth, Hof & Walther 2014).
Anerkennung im Übergang: Didaktische Strategien zur Teilhabe von Kindern aus prekären Lebenslagen
Müller, Prof. Dr. Kathrin
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik
Transitionsprozesse im Bildungssystem – etwa beim Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule – sind nicht nur administrative Schnittstellen, sondern zentrale biographisch-institutionelle Übergänge mit hoher Strukturierungsdichte, Selektionskraft und Bedeutung für Identitätsbildung (Griebel & Niesel, 2011; Walther, 2024). Für Kinder und Jugendliche aus prekären Lebenslagen sind insbesondere die Übergänge zwischen schulischen Anforderungen und ihren sozialen Lebensrealitäten kritisch: sie sind überdurchschnittlich häufig von Exklusionsrisiken betroffen. Theoretisch lässt sich dies mit der sozialen Passung und der Reproduktion sozialer Ungleichheit über habituelle Dispositionen im Sinne Bourdieus (Bourdieu, 1982) und empirisch mit zahlreichen Studien zu Bildungsungleichheiten mit Blick auf den sozialen Hintergrund (z. B. Menze et al., 2023; Böttcher et al.; 2022) begründen.
Der Beitrag fragt, wie Transitionsprozesse zwischen Schule und familiären bzw. sozialräumlichen Erfahrungswelten im Sinne inklusiver Didaktik als pädagogisch gestaltbare Möglichkeitsräume gefasst werden können. Im Zentrum steht die Idee einer „Didaktik der Anerkennung“, die strukturelle Übergangsbegleitung, unterrichtliche Gestaltung und soziale Anerkennung zusammenführt. Der Fokus liegt auf Statusmaßnahmen nach Elizabeth G. Cohen als praxiserprobtem Zugang zur Förderung gleichwertiger Teilhabe. Statusarbeit wird als ein Beitrag zur Bearbeitung von Diskontinuitäten, Selbstpositionierung und Zugehörigkeit im Transitionsprozess Schule- und Herkunftsmilieu verstanden. Durch gezielte Zuschreibung verdeckter Kompetenzen und differenzierte Rollen können Schüler:innen, denen ein niedriger sozialer Status zugeschrieben wird, in ihrem schulischen Lernen gestärkt werden. Ziel des Beitrags ist es, Übergänge nicht nur als individuelle Herausforderung, sondern als alltägliche, strukturell verortete Brennpunkte bildungsbezogener Ungleichheit zu verstehen – und gleichzeitig didaktische Handlungsoptionen sichtbar zu machen.
Responsibilisierung im selektiven Übergang? Biografische Aneignungsweisen der Norm der Eigenverantwortung am Ende der inklusionsorientierten Sekundarstufe I
Kurth, Stefanie
Leibniz Universität Hannover
Schulische Übergänge stellen zentrale Selektionsmechanismen der Re-Produktion sozialer Ungleichheit dar. Die Integrierte Gesamtschule wird als Sekundarschulform herausgestellt, die über mehrjähriges gemeinsames Lernen sogenannte chancengerechte Teilhabe ermöglichen soll. Leistungsbezogene Selektionsprozesse hinsichtlich differenter Ab- und Anschlüsse finden vergleichsweise später, am Ende der inklusionsorientierten Sekundarstufe I statt. Bezogen auf das bildungspolitische Ziel der „Chancenerweiterung“ wurde bereits im Zuge der Einführung erster Gesamtschulen die Förderung von Eigenverantwortung postuliert (Hollen 2023, S. 236). Spätestens seit dem wohlfahrtsstaatlichen Umbau mittels des Aktivierungsparadigmas etablierte sich Eigenverantwortung als gesamtgesellschaftliche Norm (Kessl 2023). In pädagogischen Kontexten lassen sich Praktiken der Responsibilisierung seither als relevante Subjektivierungstechnik beobachten (z.B. Dahmen 2024).
Im Rahmen eines Einzelbeitrags sollen erste Ergebnisse eines Dissertationsprojekts vorgestellt werden, das danach fragt, wie Schüler*innen Integrierter Gesamtschulen den selektiven Übergang nach der Sekundarstufe I im Kontext sozialer Ungleichheit, Prekarität und Sorgepraktiken hervorbringen und mitgestalten. Die narrationsanalytisch ausgewerteten, biografischen Fallporträts verweisen auf unterschiedliche Modi der biografischen Gestaltung des selektiven Übergangs. Im Rahmen des Vortrags sollen zwei kontrastive Fälle vorgestellt und dabei erkundet werden, wie Anrufungen zu Eigenverantwortung im Spannungsfeld schulischer Teilhabe und Leistungsselektion im Übergang vollzogen werden. Anhand der Kontrastierung soll diskutiert werden, wie die Schüler*innen die Norm der Eigenverantwortung in Bezug auf ihre unterschiedlichen biografischen Erfahrungen von Prekarität und Sorge je eigensinnig verhandeln und sich diese hinsichtlich bildungs- und arbeitsweltbezogener Selbstpositionierungen im Übergang aneignen.