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Die Vergabe diagnostischer Label wie die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs hat nicht nur auf den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe, sondern auf die gesamte nachschulische Entwicklung betroffener Individuen bis ins Erwachsenenalter erhebliche Auswirkungen (z. B. Farley et al. 2023). Dabei zeigt die Tatsache, dass 95% aller in Nordrhein-Westfalen initiierten Fördergutachten zur Feststellung eines Förderbedarfs führen (Amrhein & Badstieber 2025) die weitreichende Relevanz lehrerseitiger Wahrnehmung bei der Vergabe diagnostischer Label. Der vorliegende Beitrag analysiert soziale Konstruktionsprozesse im Vorfeld der Feststellung verhaltensbezogener sonderpädagogischer Förderbedarfe in der Grundschule.
Theoretisch stützt sich die Analyse auf den Labeling-Ansatz sowie auf sonderpädagogische Forschungsergebnisse, die auf die stigmatisierenden Folgen diagnostischer Label sowie die zum Teil geringe Qualität diagnostischer Verfahren hinweisen (z.B. Wolf & Dietze 2022).
Im Zentrum steht die Frage, wie Schüler*innen im Vorfeld der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs von ihren Lehrkräften wahrgenommen werden und wie sich diese Wahrnehmung bis hin zur formalen Diagnose entwickelt.
Grundlage ist eine qualitative Längsschnittstudie, im Rahmen derer 270 Kinder aus 11 Klassen über 3 Schuljahre begleitet wurden. Mittels kriteriengeleiteter Fallauswahl wurde die Gesamtstichprobe auf 12 diagnostisch gelabelte Schüler*innen eingegrenzt, zu denen ihre Lehrkräfte über den Erhebungszeitraum in 45 Interviews befragt wurden. Ausgewertet wurden die Interviews mittels qualitativer Inhaltsanalyse.
Die Auswertung zeigt frühe und konstante Zuschreibungen problematischen Verhaltens, wachsende Intensität der Maßnahmen sowie eine fortschreitende Ausweitung von Zuständigkeiten, die sich als zentrale Elemente des langfristigen, interaktiven Konstruktionsprozesses im Vorfeld der Vergabe sonderpädagogischen Förderbedarfs darstellen.
Eltern und Sorgeberechtigte in Transitionsprozessen: Wünsche und Alternativen zu sonderpädagogischer Feststellungsdiagnostik
Brodesser, Dr. Ellen2; Schäfer, Dr. Lea1; Bengel, Prof. Dr. Angelika2
1Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd; 2Humboldt-Universität zu Berlin
Nach Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs bei Schüler:innen folgt zumeist eine Entscheidung über den Beschulungsort. Für viele resultiert daraus ein Wechsel in eine Förderschule. Die Ergebnisse der teilweise intransparenten Feststellungsverfahren beeinflussen so schulische Bildungsbiographien maßgeblich (Haas et al., 2025). Demgegenüber belegen (inter-)nationale Untersuchungen die seit Jahrzehnten bestehende Kritik an sonderpädagogischer Feststellungsdiagnostik und die dadurch initiierten Zuweisungsprozesse, die vor allem Schüler:innen aus sozial benachteiligten Familien in ihren Bildungschancen einschränken und deren familiäres Umfeld als nicht passend zu schulischen Erwartungen charakterisiert. (FePrax, InDivers, Blasse & Haas, 2024).
Dabei sollen Eltern und Sorgeberechtigte in allen deutschen Bundesländern in das Verfahren der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs einbezogen werden (vgl. Wolf & Dietze, 2022) und die Entscheidung über die Schullaufbahn ihres Kindes durch die Beteiligung am Verwaltungsakt der sonderpädagogischen Überprüfung treffen (Haas et al., 2025). Aufgrund ihrer fehlenden Zugängigkeit zu Informationen und Wissen bzgl. der Bedeutung und den Folgen sonderpädagogischer Diagnosen kann hier jedoch nicht von einer Beteiligung im Sinne tatsächlicher Partizipation (Lundy, 2007), gesprochen werden. Partizipation wird dabei eher als Zugeständnis strategisch inszeniert, da der Ausgang der Entscheidungsfindung nicht offen gestaltet ist (Rieker et al., 2016).
Auf Grundlage der Analyse von Abschlussgesprächen mit Eltern und Sorgeberechtigten in sonderpädagogischen Überprüfungsverfahren (N=50) in fünf Bundesländern (Datengrundlage ist das BMBF-geförderte Projekt FePrax, 2021-2024) wird inhaltsanalytisch herausgearbeitet, wie Eltern in diese Transitionsprozesse einbezogen werden. Ziel der Analyse ist es, Sorgen und Wünsche von Eltern und Sorgeberechtigten in diesen Transitionsprozessen aufzuzeigen und Alternativen zu den bestehenden Praktiken zu formulieren.