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Sitzungsübersicht
Sitzung
Session 4.5
Zeit:
Dienstag, 23.09.2025:
14:00 - 15:30


Autistische Perspektiven auf zentrale Übergänge im Bildungsverlauf – Erfahrungen, Chancen und Herausforderungen (Symposium)


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Präsentationen

Autistische Perspektiven auf zentrale Übergänge im Bildungsverlauf – Erfahrungen, Chancen und Herausforderungen

Chair(s): Sasso, Isabella (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)

Übergänge sind zentrale Stationen im Lebenslauf eines jeden Menschen. Für autistische Personen jedoch sind sie von besonderer Relevanz, da sie nicht nur mit Veränderungen und Strukturbrüchen einhergehen, sondern häufig auch mit erheblichem Stress verbunden sind – insbesondere angesichts des oft ausgeprägten Bedürfnisses nach Vorhersehbarkeit, Routinen und Stabilität. Schon scheinbar kleine Veränderungen im Alltag – wie ein Wechsel der Begleitperson oder der Arbeitsumgebung – können zu Überforderungserleben führen. Größere Übergänge, etwa von der Schule in das Berufsleben, stellen komplexe Herausforderungen dar, die gezielte Vorbereitung und Unterstützung erfordern. Für viele nichtautistische Menschen lassen sich solche Übergänge mit einer gewissen Anpassungsfähigkeit und Flexibilität bewältigen. Für Autist:innen hingegen bergen sie ein hohes Krisenpotenzial: Der Verlust vertrauter Strukturen, das Konfrontiertsein mit neuen sozialen Anforderungen und der Druck zur Selbstregulation können zu massivem Stress führen.

Besonders deutlich wird dies bei sogenannten Krisenübergängen – etwa dem Eintritt in Bildungseinrichtungen, einem Schulwechsel, familiären Veränderungen oder dem Ablösungsprozess vom Elternhaus. Gleichzeitig sollten Übergänge jedoch nicht ausschließlich als Belastung verstanden werden. Sie bieten – gut begleitet – auch Potenziale für persönliche Entwicklung, neue Erfahrungen und die Möglichkeit, eigene Wege zu finden. Gerade im Kontext von Inklusion und Selbstbestimmung können Übergänge als Neuanfänge gestaltet werden, die Raum für Teilhabe, Autonomie und individuelle Stärken eröffnen. Voraussetzung hierfür ist eine pädagogisch durchdachte, sensible und partizipative Begleitung, die die Perspektiven autistischer Menschen ernst nimmt.

Ein Blick in die Forschung zeigt, dass gerade die Erlebensperspektive autistischer Menschen in Bezug auf Übergänge bisher kaum berücksichtigt wird. Der Forschungsstand ist dominiert von klinischen Zugängen, vorwiegend aus dem englischsprachigen Raum. Dort wird dokumentiert, dass autistische Jugendliche beim Übergang ins Erwachsenenleben vergleichsweise schlechtere Ergebnisse in den Bereichen Selbstständigkeit, Beschäftigung und weiterführender Bildung erzielen (Wehman et al., 2014). Sie nehmen seltener an Übergangsplanungen teil (Shogren & Plotner, 2012), sind häufiger in sonderpädagogischen Strukturen verortet und ihre schulischen Inhalte unterscheiden sich teils erheblich von denen Gleichaltriger ohne oder mit anderen Behinderungen (Newman et al., 2011). Zugleich weisen sie häufig höhere schulische Leistungen auf – ein Hinweis auf ungenutzte Potenziale.

Angesichts dieser Diskrepanzen bedarf es dringend weiterer Forschung zu Übergängen im Lebensverlauf von Autist:innen, insbesondere aus pädagogischer Perspektive und unter Berücksichtigung ihrer subjektiven Wahrnehmungen. Übergänge müssen nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance gedacht und gestaltet werden. Sie sollten als fortlaufender Schwerpunkt in Forschung und Praxis etabliert werden, um Bedingungen für gelingende Bildungsbiographien zu schaffen.

Im Rahmen dieses Symposiums folgen drei Beiträge, die zentrale Übergänge im Bildungsverlauf autistischer Menschen beleuchten. Die Perspektiven der Personen im Autismus-Spektrum werden dabei im Vordergrund stehen. So wird im ersten Beitrag der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I thematisiert. Der zweite Beitrag wird sowohl den Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II in den Blick nehmen, als auch Schulwechsel innerhalb der Sekundarstufe. Im dritten Beitrag wird sodann der Übergang von der Schule in das Berufs- und Arbeitsleben fokussiert.

 

Beiträge des Symposiums

 

“Ich fühle mich besser” - Autistische Schüler:innen im Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule

Richter, Dr. Mechthild
Universität Erfurt

Der erste Beitrag befasst sich mit dem Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule bei autistischen Kindern. Basierend auf einem Datensatz aus Frankreich zu dieser Frage, wird deutlich, dass sich die Perspektive der Schüler:innen auf den von ihnen bewältigten Übergang deutlich unterscheidet von der der Eltern und Lehrkräfte, die auf denselben Übergang schauen. Im Beitrag soll überlegt werden, welche Parallelen es zum deutschen Bildungssystem gibt und wie Unterschiede den Übergang beeinflussen können.

Interviews mit autistischen Schüler:innen in Frankreich haben gezeigt, dass diese den Übergang normalisieren: als Bildungsereignis, das im Laufe der Schulkarriere für alle Schüler:innen ansteht. Sie erleben sich als kompetente Gestalter:innen dieses Übergangs und differenzieren zwischen Schwierigkeiten, die sie überwinden müssen und Strategien, die ihnen den Übergang erleichtert haben. Es lässt sich vermuten, dass diese positive Selbsteinschätzung möglich ist, weil Eltern, Lehrkräfte und andere Personen aus dem Umfeld der Kinder den Übergang früh antizipieren, umfassend planen und koordinieren (Richter, 2022). Die Interviews mit Eltern und Lehrkräften zeigen eine von Unsicherheit und Angst geprägte Sicht auf den Übergang, dem besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Trotz aller Schwierigkeiten und Barrieren, die ihnen im Übergangsprozess begegnet sind, ziehen viele Eltern überrascht ein überwiegend positives Fazit und reflektieren, dass sie sich mehr an den Kindern hätten orientieren sollen. Das erste Schuljahr an der weiterführenden Schule wird als Auf und Ab beschrieben, in dem es immer wieder zu Herausforderungen kommt, die identifiziert und mit verschiedenen Akteuren ausgehandelt werden müssen und Anpassungen nach sich ziehen (Richter, 2019).

Der hier beschriebene Übergang bezieht sich auf das französische Schulsystem, in dem alle Schüler:innen nach der 5. Klasse von der Grundschule auf dieselbe weiterführende Schulform wechseln. Im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem, wo der Übergang auf die weiterführende Schule auch über zukünftige Bildungs- und Berufswege entscheiden kann, ergibt sich eine größere Bedeutung dieses Übergangs; nicht nur, aber gerade auch für autistische Schüler:innen und ihr Umfeld.

Die Multiple and Multi-dimensional Transitions Theory geht davon aus, dass Übergänge dynamische, multidimensionale Prozesse auf verschiedenen Ebenen bei verschiedenen Akteuren bedeuten (Jindal-Snape et al., 2021). Im Vortrag soll so analysiert werden, welche Akteure bei Übergangsentscheidungen und -prozessen in Deutschland eine Rolle spielen und wie Schüler:innen begleitet werden können um den Übergang als gewöhnliches Ereignis in ihrer Schullaufbahn erleben und kompetent mitgestalten können.

 

“Ja und dann habe ich halt gesagt: Okay, tschüss.“ – Perspektiven autistischer Jugendlicher auf Schulwechsel und den Bildungsübergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II

Sagrauske, Mieke, Proft, Lea, Lindmeier, Prof. Dr. Christian
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Der zweite Beitrag ist innerhalb des Forschungsprojekt Schüler:innenperspektiven von Jugendlichen im Autismus-Spektrum (Lindmeier & Sagrauske 2024) situiert, welches die Erfahrungen von autistischen Jugendlichen in inklusiven Schulsettings mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz & Rädiker 2022) untersucht. Die erhobenen Daten wurden u. a. im Rahmen einer wissenschaftlichen Hausarbeit (Proft) zum Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II ausgewertet.

Ferner wurden auch Erfahrungen der autistischen Schüler:innen mit Transitionen erhoben, die sich zwischen den im System vorgesehenen Übergängen befinden bspw. Schulwechsel von einer Sekundarschule in die andere. Diese Schulwechsel scheinen aufgrund nicht passender Schulsettings besonders oft bei autistischen Schüler:innen vorzukommen. In einer Umfrage von autismus Deutschland e.V. gaben 42% der Befragten Eltern an, dass ihr Kind mindestens einmal aufgrund des Autismus die Schule wechseln musste und sogar 2% der Schüler:innen im Autismus-Spektrum die Bildungseinrichtung vier- oder fünfmal außerhalb der im System vorgesehenen Übergänge gewechselt haben (Grummt et al. 2022). In den Interviews beschreiben die autistischen Schüler:innen vielfältige Gründe für diese Schulwechsel, wie fehlende Unterstützung und Schwierigkeiten mit Lehrkräften, Mobbing oder eine unzureichend inklusive Schule. Der Schulwechsel ist dabei immer mit der Hoffnung auf einen Neustart verbunden.

Der Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II ist nach Lustenberger und ihrem Team (2023) für Jugendliche eine wichtige Entwicklungsaufgabe, verlangt weitreichende Entscheidungen und legt außerdem auch den Grundstein für den kommenden Lebens- und Karriereweg. Welche Erfahrungen autistische Jugendliche mit diesem Übergang machen und welche Herausforderungen oder Chancen sie erleben, stellt aktuell noch eine Lücke in der wissenschaftlichen Forschung dar. Die Jugendlichen in der PerSAS-Studie beschreiben diese Übergangserfahrungen als ambivalent. Einerseits werden die Freiheiten und der veränderte Bildungsauftrag in der Sekundarstufe II sehr genossen. Die Jugendlichen müssen andererseits neue Routinen und Strukturen aufbauen, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Diese herausfordernde Aufgabe muss von den autistischen Schüler:innen bewältigt werden und bedarf manchmal eine angemessene spezifische Unterstützung.

Die individuellen Erfahrungen zu beiden schulischen Übergängen werden in diesem Symposium vorgestellt und mit Zitaten der autistischen Schüler:innen aus den Interviews gestützt, um den Betroffenen selbst eine Stimme zu geben. Außerdem werden anschließend die in der Teilstudie herausgearbeiteten unterstützenden und hinderlichen Faktoren für einen gelungenen Übergang der autistischen Jugendlichen vorgestellt.

 

“Irgendwie stolpere ich von einer Station zur nächsten und gar nichts funktioniert” – Eine autistische Perspektive auf den Weg von der Schule ins Berufsleben

Schipp, Carina
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Der dritte Beitrag nimmt den Übergang von der Schule in das Arbeits- und Berufsleben autistischer Menschen in den Blick. Trotz meist hoher formaler Qualifikationen ist ihre Beschäftigungssituation in Deutschland nach wie vor prekär. So erreichen beispielsweise überdurchschnittlich viele Schüler:innen im Autismus-Spektrum die allgemeine Hochschulreife (ca. 50 %; Frank et al., 2018), ihre Erwerbsbiographien verlaufen jedoch häufig diskontinuierlich und sind von Brüchen, Umwegen und wiederholten Neuanfängen geprägt. Die Datenlage und das Wissen über den Beschäftigungsstatus sind keineswegs zufriedenstellend (Lindmeier & Schipp, 2025), so weisen Autist:innen im Vergleich zu Menschen mit Sprachbeeinträchtigungen, Lernbeeinträchtigungen oder kognitiven Beeinträchtigungen, die niedrigste Erwerbsquote (50 %; Kirchner & Dziobek, 2014) auf. An der Schnittstelle Schule–Beruf zeigt sich ein deutlicher Mangel an spezifischen Unterstützungsangeboten, die sowohl inhaltlich als auch strukturell häufig unzureichend sind. Auch die Vorbereitung auf den Berufseinstieg sowie die Sensibilisierung von Arbeitgeber:innen bleiben oft aus. Insgesamt stellt das Übergangssystem für autistische Menschen ein unübersichtliches und teils ungeeignetes Gefüge dar, das der Komplexität individueller Bedarfe nicht gerecht wird.

Trotz der Relevanz dieses Übergangs existieren im deutschsprachigen Raum bislang kaum empirische Studien zu den Erfahrungen autistischer Menschen an dieser Schnittstelle. Neben dem Fehlen spezialisierter Programme mangelt es an Forschung zur Wirksamkeit bestehender Maßnahmen. Auch Autist:innen selbst benennen einen Bedarf an stärkerer Beratung und individueller Unterstützung in den Bereichen Schule, Studium und Beruf. Interessanterweise beginnt die in der Forschung üblicherweise erst ab dem Berufseintritt diskutierte Diskontinuität in den Erwerbsverläufen oft bereits direkt nach dem Schulabschluss. Biographische Interviewaussagen aus einem partizipativ-rekonstruktiven Dissertationsprojekt zeigen zudem, dass dieser Übergangsprozess auch im Erwachsenenalter vielfach nicht abgeschlossen ist. Die Übergangserfahrungen sind nicht selten mit der (späten) Diagnosestellung selbst verknüpft, die für viele ein einschneidendes Lebensereignis darstellt. Ausgehend von einer biographieanalytischen Perspektive wird in diesem Beitrag das subjektive Erleben einer autistischen Biographin in den Mittelpunkt gestellt, um das Bewältigungshandeln im Übergang Schule–Berufsleben sichtbar zu machen. Die Innensicht bietet dabei wertvolle Einblicke in die Dynamiken und Herausforderungen dieses oft langwierigen und fragmentierten Prozesses.



 
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