Die Gestaltung von pädagogischen Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, die als sog. Systemsprenger*innen gelten
Maria Kollmer
Universität Oldenburg, Deutschland
In Bezug auf den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ist in den letzten Jahren eine veränderte Schüler*innenschaft beschrieben worden. Die Veränderungen wird durch das vermehrte und massive Auftreten von herausfordernden Verhaltensweisen gekennzeichnet (Dworschak et al., 2012; Franz, 2008; Klauß, 2012). Gleichzeitig hat in den allgemeinen Diskurs um herausfordernde Verhaltensweisen von Schüler*innen die Bezeichnung systemsprengendes Verhalten Einzug gehalten (Baumann, 2009, 2021). Gemeint ist damit nach Baumann (2021) ein Personenkreis von Kindern und Jugendlichen, die aufgrund massiver Verhaltensauffälligkeiten vermehrt Einrichtungswechsel und Beziehungsabbrüche erleben, welche die involvierten (Hilfe-)Systeme vor große Herausforderungen stellen.
Das Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Umgang von Lehrkräften mit sog. Systemprenger*innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“ beschäftigt sich unter anderem mit folgender Fragestellung: Wie wird die Beziehung zum/zur Schüler*in von den Lehrkräften beschrieben und bewertet? Im Rahmen der Studie wurden problemzentrierte Interviews (Witzel & Reiter, 2022) mit Lehrkräften an Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung geführt, die ihre Schüler*innen als systemsprengend bezeichnen. Das qualitative Forschungsvorhaben wird nach den Grundsätzen der Grounded Theory von Strauß und Corbin (Strübing, 2014) ausgewertet. In diesem Vortrag werden erste Ergebnisse präsentiert, die die herausgearbeiteten Beziehungsdimensionen der Lehrkräfte in Bezug auf die Schüler*innenschaft darstellen. In den Ausführungen der Lehrkräfte wird deutlich, dass auch die Gestaltung eines tragfähigen Arbeitsbündnisses eine Herausforderung für sie darstellt (Helsper, 2023). Die in den Interviews von Lehrkräften geschilderten Fälle verweisen auf unterschiedliche Formen einer Nähe-Distanz-Antinomie und Herausforderungen die an das Arbeitsbündnis gestellt werden (Helsper, 2012).
Jugendliche mit Beeinträchtigung erzählen über leistungsbezogene, pädagogische Beziehungen: Erkenntnisse und Ableitungen für die Professionalisierung von (angehenden) Lehrpersonen
Anne Bödicker
PH Karlsruhe, Deutschland
Ausgehend von Erzählungen Jugendlicher mit Sehbeeinträchtigung soll die im Call aufgeworfenen Frage nach positiven bzw. problematischen Lehrer:innen-Schüler:innen-Interaktionen in inklusiven wie exklusiven Schulsettings bearbeitet werden. Konkret sollen in dem Beitrag anhand einzelner Interviewauszüge verschiedene leistungsbezogene Interaktionen nachgezeichnet sowie deren vulnerabilitäts- bzw. resilienzbezogene Wirkmächtigkeiten (Hirschberg/Valentin 2020; Fröhlich-Gildhoff/Rönnau-Böse 2022) vorgestellt werden, die in Verbindung mit Selbstwert und Selbstwirksamkeitsempfinden stehen. Die Auswertungen zeigen im Feld von unterrichtlichen Leistungszuschreibungen bzw. –absprachen nachhaltige schubiographische Auswirkungen. Ein Faktor dafür wird in unbewusstem ableistischen Denken seitens der Lehrpersonen gesehen (vgl. Hirschberg/Köbsell 2021: 135).
Darauf aufbauend soll das Potenzial von Fallarbeit, welche auf gemachten Erfahrungen von Jugendlichen mit Beeinträchtigung im Kontext pädagogischer Beziehungen basiert, für die Aus- bzw. Weiterbildung von Lehrpersonen gezeigt werden (vgl. Buchner 2022a/b): Es können im handlungsentlasteten Raum verschiedene diversitätssensible Lesarten entwickelt werden, die zur Erweiterung der Handlungskompetenz von Lehrkräften beitragen, ohne eine ‚richtige‘, aber verschiedene ‚brauchbare‘ Lösungen aufzuzeigen (vgl. Schierz/Thiele 2002). Für den (inklusiven) Schulkontext können (angehende) Lehrpersonen von dieser Form der Professionalisierung profitieren (vgl. Reisenauer/Gerhartz-Teiter 2020), weil sie irritiert (vgl. Boger/Brinkmann 2021: 25) und dafür sensibilisiert werden, wie wirksam und Schüler*innen stärkend, prägend oder auch nachhaltig verletzend ihr (Beziehungs-)Handeln sein kann.
Beziehungsgestaltung und Sozialraum? – Empirische Impulse und professionstheoretische Überlegungen
Fabian Mußél, Rolf-Torsten Kramer
MLU Halle, Deutschland
Der Beitrag verfolgt die Frage, ob und inwiefern eine sozialräumliche Deutung und Wahrnehmung von Lehrkräften in der Beziehungsgestaltung mit der Klientel Bedeutung gewinnen. Als Ausgangspunkt werden die empirischen Analysen, denen ein praxeologischer Zugang zu Grunde liegt (Bohnsack 2020), aus dem Teilprojekt „NeOBI“ herangezogen, die deutlich machen, dass der Blick auf Kinder als Klientel pädagogischer Einrichtungen relational sehr eng mit der Wahrnehmung und den Vorstellungen zum lokalen Kontext (dem Sozialraum) verknüpft ist und damit auch Orientierungen zur eigenen pädagogischen Zuständigkeit und Beziehungsgestaltung verbunden sind. Man könnte davon sprechen, dass pädagogische Einrichtungen und Akteure über ihre Klientel (z. B. die Schülerschaft) i. d. R. naturwüchsig auch eine Vorstellung zum sozialökologischen Kontext ausbilden (müssen). So zeigt sich in unseren Analysen, die wir vorstellen möchten, dass ein sozialraumbezogener Blick einerseits eine wichtige Kontextualisierung der Beziehungsgestaltung ermöglicht, auf der anderen Seite aber auch mit Pauschalisierungen und Verkürzungen einhergehen kann. Es werden also Relationen des Sozialraumes zu pädagogischen Einrichtungen in je spezifischer Weise realisiert und damit auch (Bildungs-)Ungleichheiten (re-)produziert. Dazu werden neben den empirischen Anregungen aus unserem Teilprojekt auch thematisch anschließende Diskurse zur Professionalisierung beruflicher pädagogischer Akteure z. B. Sozialraumorientierung (Kessl und Reutlinger 2022) und Habitussensibilität (Sander 2014) aufgegriffen und auf professionstheoretische Argumentationen für das Lehrer:innenhandeln (Kramer und Fabel-Lamla 2024) Bezug genommen (Mußél und Kramer 2025).
„Ich habe lieber ein paar hohle aber nette (Schüler*innen)“ - Widersprüche in Konstruktionen von Lehrpersonen mit Blick auf Schüler*innen, Eltern und pädagogischen Beziehungen
Christine Becks, Laura Beckmann, Rukiye Ates
Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Die Überzeugungen und Sichtweisen von Lehrpersonen in Bezug auf Schüler*innen und deren ethnische und kulturelle Vielfalt beeinflussen die Verhaltensweisen der Lehrpersonen und damit die Qualität und Ausprägung ihrer pädagogischen Beziehungen und Interaktionen innerhalb und außerhalb des Unterrichts (z.B. Gay, 2015, S. 126). Erste Untersuchungen in Deutschland verweisen auf die Gleichzeitigkeit von kulturresponsiven, kontextsensiblen und im Sinne von Chancengerechtigkeit zugewandten pädagogischen Haltungen einerseits, und defizitären, rassistischen und diskriminierenden Perspektiven auf dieselben Schüler*innen andererseits (Kehl et al., 2024). Dieser Widerspruch zwischen wohlwollender pädagogischer Absicht und der Abwertung jener Menschen, für die Gutes gewollt wird, verweist auf Fragen der Konstitution solcher Ambivalenzen, deren Folgen für die Qualität professionalisierten Handelns und pädagogischer Professionalisierung selbst. Auf der Grundlage phänomenologischer Einzel- und Gruppengespräche (Bevan, 2014; Kolbe, 2016, 2020) mit 74 Lehrkräften einer Gesamtschule in sozial benachteiligter Lage in NRW expliziert dieser Beitrag zunächst die widersprüchlichen Konstruktionen von Lehrpersonen mit Blick auf ihre Schüler*innen und deren Eltern. Die Analyse und Systematisierung aus der analytischen Perspektive von Kulturresponsivität als pädagogische Anerkennung von Vielfalt und ihres schulischen Wertes (z.B. Ialuna et al., 2024; Ladson-Billings, 2021; Gay, 2015) und von den fünf Domänen professionalisierten Handelns (Paseka et al., 2011, S. 28) zeigt, dass die Widersprüche in ihrer Erscheinung variabel und dennoch gleichbleibend problematisch sind, und mahnt zur zeitgemäßen Auseinandersetzung mit paternalistisch-diskriminierender Abwertung durch Lehrpersonen (Terhart, 2021).
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