Beitrag wurde zurückgezogen! Pädagogische Beziehungen im Vertretungsunterricht. Professionstheoretische Überlegungen und empirische Befunde
Richard Lischka-Schmidt
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
Vertretungsunterricht, also Unterricht, in dem sich Schulklasse und Lehrperson nicht oder nur wenig kennen, ist bislang kaum erforscht. Zwar geraten (studentische) Vertretungslehrkräfte zunehmend in den Blick der Forschung (Winter et al. 2023), doch die Erforschung der Interaktionspraxis von Vertretungsunterricht stellt empirisch wie theoretisch ein Desiderat dar, weil sich bisher nur vereinzelt damit befasst wird (Breidenstein 2006: 123–137; Breidenstein & Jergus 2005; Lischka-Schmidt 2024).
Vertretungsunterricht ist jedoch ein erkenntnisbringender ‚(Ausnahme-)Fall‘ von Unterricht, weil er „die Bedingungen der ‚Normalität‘ von Unterricht in deutlicherer Weise hervortreten“ (Breidenstein & Jergus 2005: 182) lässt. So kann am Beispiel des Vertretungsunterrichts untersucht werden, wie elementar konkrete Personen und nicht nur Rollen für die Konstitution von Unterricht bzw. professionellen Lehrer:innenhandelns sind, inwiefern also eine zeitliche und soziale Kontinuität eine Konstitutionsbedingung professionellen Unterrichts darstellt. Der Vortrag untersucht daher die Frage, wie im Vertretungsunterricht pädagogische Beziehungen hergestellt werden und was sich dadurch über die Bedingungen pädagogischer Professionalität aussagen lässt.
Im ersten Teil des Vortrags werden strukturtheoretische (Helsper 2023) und praxeologisch-wissenssoziologische Konzeptualisierungen (Bohnsack 2024) pädagogischer Beziehungen als Element pädagogischer Professionalität diskutiert. Dies führt zu Frage, wie im Vertretungsunterricht Arbeitsbündnisse (z.B. Helsper et al. 2007) und konstituierende Rahmungen (z.B. Tesch & Grein 2024) hergestellt werden. Im zweiten Teil des Vortrags werden diese Fragen an empirischen Beispielen untersucht (studentische Beobachtungsprotokolle, in Fallportalen dokumentierte Vertretungsstunden, eigene ethnographische Beobachtungen), die zurzeit im Rahmen einer explorativen Vorstudie in Anlehnung an die Grounded Theory (Corbin & Strauss 2015) ausgewertet werden.
Desintegrative Inklusion. Empirische Erkundungen und strukturtheoretische Adjustierungen
Eike Wolf, Hannes König
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
Mit seinem Theorem der pädagogischen Permissivität und Entgrenzung hat Wernet (2003) nicht nur eine Kritik am strukturtheoretischen Ansatz pädagogischer Professionalität (Oevermann 1996, Helsper 2021) formuliert, sondern implizit auch an emphatischen Konzepten eines pädagogischen Bezugs (z.B. Nohl 1929, Prengel 2020). Bender und Dietrich (2019: 47) haben daran anknüpfend angesichts „systematisch integritätsverletzende[r] Entgrenzungsdynamiken“ im inklusiven Unterricht der sich im „Spannungsfeld von Meritokratie und Inklusion [als] Normkonflikt“ (Hummrich/Meseth 2022) vollzieht, nach den Aktualisierungsnotwendigkeiten der Theoretisierung schulischer Inklusion gefragt.
Wir greifen dies auf, indem wir anhand der Rekonstruktion einer exemplarischen Unterrichtssequenz und entlang der Prämisse einer konstitutiven Gleichzeitigkeit sozialer In- und Exklusionsprozesse der Paradoxie nachspüren, wieso gerade der mit gesteigerten normativen Ansprüchen belegte Vollzug ‚inklusiven‘ Unterrichts, empirisch in verschärfter Weise entgrenzte Beziehungsfigurationen hervorbringt. Die Szene dokumentiert – analog zur Befundlage (z.B. Cafantaris/Meseth 2023, Herzmann/Merl 2017) – zwar die Intention (inter)aktiven Einbezugs einer als zu inkludierend geltenden Schülerin in das unterrichtliche Geschehen. Der beziehungslogische Preis hierfür ist allerdings eine Umdeutung der Rollenförmigkeit: ‚Inklusion‘ begegnet uns hier nicht etwa in einer besonderen und besondernden Adressierung der Schülerin als Schülerin, sondern vielmehr in einer dezidiert desintegrativen Gestalt pädagogischer Entgrenzung, in der die Schülerin als Assistentin der Lehrperson inszeniert wird. Hiervon ausgehend wollen wir nach rollen- und differenzierungstheoretischen Implikationen fragen.
Die asymmetrische Struktur der Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung. Heuristische Überlegungen zu ihrer Mehrdimensionalität und empirische Befunde zu ihrer habituellen Ausgestaltung
Christoph Bressler
Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Ein Merkmal der Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung ist ihre vielgestaltige Asymmetrie hinsichtlich Wissen, Können, Erfahrung, Abhängigkeit, Befugnisse etc. Diese asymmetrische Beziehungsstruktur gilt als ein zentraler Aspekt der „grammar of schooling“ (Vanderstraeten & Biesta, 2006) und als konstitutiv für die pädagogische Beziehung in der unterrichtlichen Interaktion (z.B. Asbrand & Martens, 2018; Helsper & Reh, 2012; Herzog, 2002). Gleichzeitig wird jedoch auch dafür argumentiert, dass zur Unterstützung von Lern- und Bildungsprozessen die pädagogische Beziehung immer wieder ‚kommunikativ symmetrisiert‘ werden müsse (z.B. Helsper, 2016; Misamer & Thies, 2014). Dies verweist auf die zentrale, aber auch ambivalente Bedeutung, die der Asymmetrie der pädagogischen Beziehung für die Handlungspraxis von Lehrkräften zugewiesen wird. Die asymmetrische Beziehungsstruktur lässt sich in verschiedene Facetten ausdifferenzieren. Anders als beim verwandten, aber zu unterscheidenden Begriff pädagogischer Autorität (Schäfer & Thompson, 2009) liegen bisher jedoch kaum theoretische Konzeptualisierungen dieses komplexen Merkmals pädagogischer Beziehungen vor. Hier setzt der Vortrag an und schlägt in einem ersten Schritt ausgehend von struktur- und systemtheoretischen Überlegungen zu pädagogischer Professionalität und Kommunikation eine heuristische Konzeption vor, die die Mehrdimensionalität der Asymmetrie systematisch auffächert. Ausgehend von dieser Heuristik präsentiert der Vortrag Befunde einer rekonstruktiven Studie zum Umgang von Lehrkräften mit der asymmetrischen Beziehungsstruktur. Anhand dokumentarisch ausgewerteter Gruppendiskussionen mit Lehrkräften wurde eine Typologie habitualisierter Asymmetriegestaltung rekonstruiert. Der Vortrag zeigt exemplarisch die Bedeutung habitueller Orientierungen bezüglich Asymmetriegestaltung für eine auf Lernen ausgerichtete pädagogische Beziehung bzw. die Entwicklung und Aufrechterhaltung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses.
Pädagogische Beziehung in der Kontroverse – eine qualitativ empirische Exploration
Miguel Zulaica y Mugica, Lisa Jacoby, Meryem Aydogan
TU Dortmund, Deutschland
Konflikt ist konstitutiv für die pädagogische Beziehung in einem (inter-)generationalen und antinomischen Verhältnis (Helsper 2021). Die zentrale pädagogische Frage ist, wie Beziehung im Konflikt gelingen kann (Jergus & Bünger 2024). In einer superdiversen Gesellschaft (Vertovec 2024) mit einer Pluralität an Religionen, Lebensformen und intersektionalen Positionierungen treten Kontroversen u.a. zu Race, Gender und Islam in Schulen geplant oder ungeplant auf (Cassar et al. 2023) und fordern pädagogische Beziehungen heraus (Drerup et al. 2021).
In dem Vortrag wird auf der Grundlage einer qualitativ rekonstruktiven Studie „Der Islam“ in der Kontroverse, die durch das MKW NRW und Core NRW gefördert wird, der Frage nachgegangen, welche Relationen sich zwischen pädagogischen Beziehungen und Kontroversen rekonstruieren lassen (Zulaica & Wigger 2024). In dieser Studie wurden anhand zweier Gruppendiskussionsformaten (statusgruppenheterogen und -homogen) die Performanz von Kontroversen des Islamdiskurses im schulischen Kontext erhoben. Auf der Basis einer konflikt- und affektsoziologischen Ergänzung (Mau et al. 2023; Diefenbach 2022) der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2014) werden in der Auswertung Kontroversen als Diskurseffekte beschreibbar, die aufgrund affektiv-diskursiver Register der Teilnehmenden hervorgebracht werden und in Bezug auf Beziehungsmomente analysierbar sind. Entlang des Materials sollen drei Relationen im Vortrag exploriert werden: (1) Pädagogische Beziehungen als Hindernis für Kontroversen; (2) Kontroversen als Gefährdung von pädagogischer Beziehung und (3) pädagogische Beziehung als Bedingung für Kontroversen. Mit dieser Exploration sollen Einsichten in die Konstitution von pädagogischen Beziehungen, der Gestaltung von (Generations-)Beziehungen in Kontroversen sowie der Wahrnehmung der schulischen Akteur:innen dieser Beziehungen gewonnen werden.
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