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Sitzungsübersicht
Sitzung
Pädagogische Beziehungen aus Schüler_innenperspektive zwischen Anerkennung und seelischer Gewalt
Zeit:
Freitag, 19.09.2025:
13:00 - 15:00

Chair der Sitzung: Anne Piezunka, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort: HS 3 = Raum 1135

Hörsaal 3 Raum 1135 im ersten Stock

Symposium

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Präsentationen

Pädagogische Beziehungen aus Schüler_innenperspektive zwischen Anerkennung und seelischer Gewalt

Chair(s): Sophia Richter (Pädagogische Hochschule Vorarlberg), Anne Piezunka (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland)

Eine auf Anerkennung beruhende Gestaltung pädagogischer Beziehungen von Seiten der Lehrkräfte gilt für Aspekte wie well-being, das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung von Schüler_innen als zentral (z.B. Pianta 1999, Prengel 2019, Stojanov 2006, Zerillo & Osterman 2011). Verschiedene (inter-)nationale Studien weisen aber auch darauf hin, dass es im schulischen Alltag nicht nur zu anerkennendem Handeln, sondern auch zu seelischer Gewalt von Lehrkräften gegenüber Kindern und Jugendlichen kommt, z.B. in Form von Beleidigungen, Beschimpfungen, Ignorieren oder Bloßstellungen (Gusfre, Støen & Fandrem, 2022; Scharpf, Kızıltepe, Kirika & Hecker, 2023).

In diesem Zusammenhang stellt sich zum einen die Frage, wie sich die Phänomene Anerkennung und Gewalt theoretisch (auch in ihrer wechselseitigen Bezugnahme) bestimmen lassen, und, wie die Phänomene von schulischen Akteur_innen gedeutet werden. Insbesondere die Perspektive von Schüler_innen wird bisher kaum berücksichtigt (Rosenthal & Ben Arieh 2022; Geiger & Fischer 2006).

Im Rahmen des Symposiums wollen wir ausgehend von Interviewprotokollen die Perspektive von Schüler_innen rekonstruktiv in den Blick nehmen und analysieren, wie Schüler_innen pädagogische Interaktionen in Bezug auf Anerkennung und seelische Gewalt erleben, wahrnehmen und deuten. Einen besonderen Fokus legen wir auf die Frage, inwiefern Schüler_innen in ihren Deutungen Bezüge zu Differenzkategorien, z.B. class, gender, race, etc., herstellen oder über welche herkunftshabituellen Dispositionen sie verfügen. Hierbei interessiert uns, inwiefern jene Differenzkonstruktionen und Dispositionen bei der Artikulation und Wahrnehmung von Erfahrungen, die sich als Anerkennung oder seelische Gewalt fassen lassen, eine Rolle spielen, z.B. differenzspezifische Erfahrungen, Legitimationsmuster für das Verhalten der Lehrkraft, erzählte Wirkungen von Interaktionen sowie Formen der Bearbeitung im Spannungsfeld von Abhärtung sowie Sensibilisierung.

Die Ergebnisse kontextualisieren wir anerkennungstheoretisch (z.B. Honneth 1992) und unter Rückgriff auf theoretische Arbeiten zu seelischer Gewalt (z.B. Herrmann und Kuch 2007). Hierbei wird eine differenzsensible Perspektive angelegt, welche sich im Sinne eines weiten Inklusionsbegriffs durch eine analytische Offenheit gegenüber Differenzkategorien, die mit Blick auf (fehlende) Anerkennungserfahrungen von Relevanz sind, kennzeichnet. Darüber hinaus impliziert diese Perspektive eine Berücksichtigung der Intersektionalität von Kategorien (Crenshaw 1989), unterscheidet zwischen Fremd- und Selbstidentifikation (Supik 2017) und reflektiert mit Blick auf Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen bestehende Labels z.B. “Behinderung” (Moser 2012) sowie “Migrationshintergrund” (Supik 2017) kritisch. Schließlich werden Möglichkeiten und Herausforderungen in Bezug auf empirische Studien mit Schüler_innen diskutiert.

Zum Aufbau des Symposiums: Im ersten Beitrag wird ein theoretischer Überblick über zentrale Arbeiten in Bezug auf Erfahrungen von Anerkennung und seelischer Gewalt in pädagogischen Beziehungen gegeben (z.B. Helsper & Hummrich 2014; Fischer und Richey 2022; Prengel 2019; Heinzel 2014; te Poel 2018). Hierbei liegt ein Fokus auf dem Phänomen der seelischen Gewalt und der Frage, inwiefern die theoretische Bestimmung herausforderungsvoll ist und welche Bezüge sich zur Heterogenität der Schüler_innen herstellen lassen.

Im zweiten Beitrag geht es auf der Grundlage von empirischen Material primär um als anerkennend konstituierte Erfahrungen von Schüler_innen des Sekundarbereichs. Es wird analysiert, wie Schüler_innen die pädagogische Beziehung zu Lehrkräften wahrnehmen und über welche schulbezogenen herkunftshabituellen Dispositionen sie verfügen. Grundlage der Rekonstruktionen sind Protokolle aus Schüler_inneninterviews, die mit der sequenzanalytischen Habitusrekonstruktion (Kramer, 2018) ausgewertet wurden.

Im dritten Beitrag wird anhand von Interviews mit Schüler_innen aus dem Primarbereich in den Blick genommen, was diese unter seelischer Gewalt von Lehrkräften gegenüber Schüler_innen verstehen und inwiefern die Schüler_innen im Erleben und in den wahrgenommenen Folgen seelischer Gewalt Bezüge zu Differenzkategorien z.B. race, class, gender sowie ability herstellen. Hierbei wird auf Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit insgesamt zehn Schüler_innen im Alter von 9-11 Jahren zurückgegriffen, die mithilfe einer adaptierten Form des integrativen Basisverfahrens nach Kruse (2014) ausgewertet werden.

Im Rahmen des Symposiums wird insofern eine interdisziplinäre Perspektive eingenommen, da neben schulpädagogischen Arbeiten (z.B. Helsper und Hummrich 2014), auch soziologische Überlegungen zu Humandifferenzierung (Hirschauer 2014) und Gewalt (z.B. Vorobej 2019) sowie psychologische Studien zu Auswirkungen von Diskriminierung berücksichtigt werden (z.B. Frost & Meyer, 2023).

Im Rahmen der Diskussion sollen insbesondere die folgenden zwei methodische Fragen im Zentrum stehen:

  • Wie kann man pädagogische Beziehungen empirisch in den Blick nehmen?

  • Welche Herausforderungen gibt es bei der Befragung von Kindern?

 

Beiträge des Symposiums

 

Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung und seelischer Gewalt - eine Einführung

Anne Piezunka
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Deutschland

Im ersten Beitrag des Symposiums wird zunächst ein theoretischer Überblick über zentrale Arbeiten in Bezug auf pädagogische Beziehungen im Kontext von Anerkennung und seelischer Gewalt gegeben. Hierbei knüpfen wir neben strukturtheoretisch orientierten Arbeiten (Helsper und Hummrich 2014) an bestehende theoretische Debatten zum Anerkennungsbegriff (Honneth 1992; te Poel; 2018; Balzer 2014) an. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Phänomen der seelischen Gewalt und der Frage der theoretischen Bestimmung. Anhand der Aufarbeitung verschiedener theoretischer Perspektivierungen wird eine Heuristik aus vier Dimensionen vorgestellt, die bei einer theoretischen Bestimmung des Phänomens eine Rolle spielen. Es wird herausgearbeitet, dass es sich bei seelischer Gewalt um ein relationales Phänomen handelt, wonach die individuelle Deutung von Situationen von verschiedenen Positionierungen zu vier Dimensionen abhängt :1) Epistemische Dimension im Sinne von Wahrnehmbarkeit und Thematisierbarkeit von seelischer Gewalt in der jeweiligen Situation; 2) strukturelle und kulturelle Dimension, z.B. soziale Positionierungen sowie historische, kulturelle und regionale Gegebenheiten; 3) Beziehungsdimension, d.h. das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schüler_innen, z.B. gegenseitige Rollenerwartungen sowie die bisherige Beziehung der betroffenen Personen und 4) personale Dimension, z. B. die Vorgeschichte der betroffenen Person im Kontext von Anerkennung und Gewalt. Zugleich werden Spannungsfelder aufgezeigt und Bezüge zum Anerkennungsbegriff hergestellt. Abschließend wird die Heuristik mit Blick auf bereits vorhandene empirische Studien diskutiert, bspw. unter dem Fokus, inwiefern die Diversität der Schüler_innen in Bezug auf Erfahrungen von Anerkennung und seelischer Gewalt eine Rolle spielt (z.B. Gusfre et al., 2023; Scharpf et al., 2023).

 

Fokus auf Anerkennung in pädagogischen Beziehungen aus Schüler_innenperspektive

Kathrin te Poel
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Sowohl empirische (bspw. te Poel, 2021) als auch theoretische Studien (bspw. Helsper & Hummrich, 2014, Stojanov, 2006) markieren eine große Bedeutung der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler_innen für die Entwicklung und den Bildungsweg von Schüler_innen. Dies zieht hohe normative Erwartungen an das pädagogische Handeln nach sich. Zugleich unterliegt die pädagogische Beziehung Antinomien (vgl. Helsper, 2014) und einer Unverfügbarkeit (vgl. te Poel & Heinrich, 2018), so dass eine gelungene pädagogische Beziehung nicht ohne und unabhängig vom jeweiligen Gegenüber, also dem Schüler bzw. der Schülerin, gedacht werden kann.

Auf diese Seite der pädagogischen Beziehung fokussiert dieser Beitrag die Schüler_innensicht. Anhand von zwei Fallrekonstruktionen wird gezeigt, wie die Wahrnehmung und das Empfinden der pädagogischen Beziehung durch Schüler_innen jeweils mit den auf Schule bezogenen herkunftshabituellen Dispositionen der Schüler_innen verwoben sind.

Grundlage der Rekonstruktionen sind Protokolle aus zwei von insgesamt 17 geführten Schüler_inneninterviews, die mit der sequenzanalytischen Habitusrekonstruktion (Kramer, 2018) ausgewertet wurden. Leitende Fragestellungen der Auswertung der Daten waren: Über welche schulbezogenen herkunftshabituellen Dispositionen verfügen Schüler_innen? Wie nehmen die Schüler_innen die pädagogische Beziehung zu Lehrkräften wahr? Die Ergebnisse geben Anlass für eine kritische Diskussion normativer Theorie pädagogischer Beziehungen und der Grenzen pädagogischen Handelns.

 

Seelische Gewalt in pädagogischen Beziehungen aus Schüler_innenperspektive

Marlene Doktor1, Marina Fischer2
1Universität Leipzig, 2Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Im Rahmen des dritten Beitrags wird in den Blick genommen, was Kinder unter seelischer Gewalt von Lehrkräften gegenüber Schüler_innen verstehen, welche Gemeinsamkeiten oder auch Widersprüche sich in den Deutungsmustern des relationalen Phänomens ergeben und welche Rolle Differenzkategorien in ihren Ausführungen einnehmen.

Es wurden Interviews in Einzel- und Gruppensettings mit insgesamt 10 Grundschulkindern, die überwiegend aus sozio-ökonomisch benachteiligten Haushalten kommen, geführt und in Anlehnung an das integrative Basisverfahren (Kruse 2015) ausgewertet. Eine diskriminierungskritische (u.a. El-Mafaalani et al. 2017) und intersektionale Perspektive (Crenshaw 1991; Winker & Degele 2010) sowie die Professionalisierung und Antinomien im Lehrkräftehandeln (Helsper 2021) dienen als Analyseheuristiken. Daneben betrachten wir unter Bezugnahme auf das Minority Stress Model (Frost & Meyer 2023), inwieweit Erfahrungen seelischer Gewalt in Verschränkung mit beschriebener Zugehörigkeit zu Differenzkategorien und psychischer Belastung der Kinder zusammenhängen. Erste Befunde verdeutlichen die Bedeutsamkeit von Differenzkategorien in den Ausführungen von Kindern zu seelischer Gewalt, z.B. Nicht-Wahrnehmung des sozio-ökonomischen Status.