Bedürfnisunterstützung als BASiS pädagogischer Beziehungen: Korrelate, Profile und Maßnahmen professioneller Fürsorge
Chair(s): Stefan Markus (Bergische Universität Wuppertal, Deutschland)
Diskutant:in(nen): Lars Meyer-Jenßen (HMU Erfurt)
Lernen ist immer in einen sozialen Kontext eingebettet. Daher sind Schulen nicht nur als Lernwelt, sondern auch als Sozialwelt anzusehen (Reicher & Matischek-Jauk, 2018). Die Qualität der pädagogischen Beziehungen zwischen Lehrkräften und Lernenden, aber auch der Peer-Beziehungen unter Schüler*innen, ist von zentraler Bedeutung für Lehr- und Lernprozesse im Schulalltag (Hascher, 2004; Mainhard et al., 2018; Hoferichter & Raufelder, 2014). Einige Theorieansätze liefern Anhaltspunkte, wie Beziehungen in der Schule positiv gestaltet werden können. So werden der Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci, 2017) zufolge Beziehungen dann als besonders positiv empfunden, wenn die drei psychologischen Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Verbundenheit innerhalb der Beziehung reziprok unterstützt werden. Insbesondere die Subtheorie "Relationships Motivation Theory“ postuliert einen positiven Effekt der reziproken Unterstützung der psychologischen Grundbedürfnisse auf die Beziehungsqualität und das Wohlbefinden der Beteiligten, wobei die drei Bedürfnisse nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind, sondern synergetisch zu- und miteinander wirken. Fühlen sich Schüler*innen in ihrer Lern- und Leistungsentwicklung unterstützt und bietet die Lernumgebung die nötige Struktur, so steigert dies ihr Kompetenzempfinden. Gleichzeitig bedarf die Entwicklung von Kompetenzüberzeugungen auch Autonomie im Sinne einer internalen Handlungsverursachung, um eine internale Attribution von Lernerfolgen zu ermöglichen. Durch Selbst- bzw. Mitbestimmungsmöglichkeiten drückt die Lehrkraft zudem Wertschätzung aus und vertraut ihren Schüler*innen, diese verantwortungsvoll zu nutzen. Vertrauen wiederum unterstützt die Entwicklung einer positiven Beziehungsdynamik und fördert die soziale Verbundenheit auf beiden Seiten. Soziale Verbundenheit als drittes psychologisches Grundbedürfnis beinhaltet das Gefühl des Integriertseins in eine Gemeinschaft, der gegenseitigen Akzeptanz und des Gefühls, von anderen umsorgt zu werden. Durch eine engagierte Zuwendung (engl. „involvement“), z.B. aufmerksames Zuhören und Interesse an den Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen, sowie emotionale Wärme und Wertschätzung können Lehrkräfte eine unterstützende und respektvolle Lernumgebung schaffen und somit zur sozialen Verbundenheit der Lernenden beitragen.
In diesem Symposium wird Fürsorge (engl. „caring“) im Sinne von psychologischer Bedürfnisunterstützung daher als zentrales Merkmal pädagogischer Beziehungen im schulischen Kontext betrachtet. Auf Basis der Selbstbestimmungstheorie werden in drei Beiträgen Korrelate, Profile und Maßnahmen professioneller Fürsorge untersucht. Der erste Beitrag befasst sich quantitativ mit unterrichtsbezogenen sowie interaktionalen Emotionen von Schüler*innen und deren Zusammenhänge mit den wahrgenommenen Beziehungen zu Lehrkräften und Mitschüler*innen. Es werden Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Schüler*innen der Primar- und Sekundarstufe thematisiert. Die zweite Studie verwendet einen personenzentrierter Ansatz, um latente Schüler*innen-Profile von Bedürfnisunterstützung zu identifizieren und die Rolle personen-, herkunfts- und leistungsbezogener Merkmale bei Sekundarstufenschüler*innen zu analysieren. Im dritten Beitrag wird sich qualitativ aus Lehrkraftperspektive den Fragen genähert, wie Bedürfnisunterstützung in der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler*innen umgesetzt werden kann und was somit schulische Fürsorge konkret auszeichnet.
Die Beiträge leisten somit gemeinsam einen Beitrag zur Diskussion, wie Lehrkräfte Beziehungen zu Schüler*innen gestalten, wie Schüler*innen die Beziehungen zu ihren Lehrkräften und Mitschüler*innen wahrnehmen und welche Zusammenhänge sich hierbei mit zentralen Faktoren gelingender Lehr- und Lernprozesse zeigen.
Es erfolgt eine kritische Diskussion der Beiträge aus pädagogisch-psychologischer Perspektive. Schlussfolgerungen zur Professionalität und Professionalisierung von Lehrpersonen werden aus den drei Beiträgen gezogen und Implikationen für die Lehramtsaus- und -weiterbildung werden abgeleitet. Die Sensibilisierung von Lehrkräften für ihre zentrale Rolle in der pädagogischen Beziehungsgestaltung steht dabei im Mittelpunkt.
Beiträge des Symposiums
Geschlechts- und schulstufenspezifische Zusammenhänge schülerperzipierter Beziehungen zu Lehrkräften und Mitschüler*innen mit unterrichtsbezogenen und interaktionalen Emotionen
Stefan Markus1, Cornelia Gar2
1Bergische Universität Wuppertal, Deutschland, 2LMU München
Als harmonisch wahrgenommene Beziehungen hängen mit individuellen Situationseinschätzungen sowie Emotionen von Schüler*innen zusammen (Pekrun et al., 2023). Interdependenzen zwischen der Lehrkraft-Schüler*innen-Beziehung (z. B. Mainhard et al., 2018) sowie Peer-Beziehungen (z. B. Forsblom et al., 2021) mit dem emotionalen Befinden konnten bereits gezeigt werden. Allerdings ist bislang nicht ausreichend geklärt, inwiefern sich diese Zusammenhänge (a) zwischen der Primar- und Sekundarstufe sowie (b) zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Zudem konzentriert sich die Forschung vorrangig auf unterrichtsbezogene Lern- und Leistungsemotionen (z.B. Freude, Langeweile), obwohl Schüler*innen wesentlich vielfältigere Emotionen im schulischen Kontext empfinden. Ein weiteres Ziel unserer Querschnittuntersuchung ist daher, den Fokus auf interpersonale Emotionen (z.B. Zuneigung, Dankbarkeit, Ärger, Schadenfreude) zu erweitern und (c) deren Zusammenhänge mit schülerperzipierten Lehrkraft- und Peer-Beziehungen aufzuzeigen.
Teilstudie 1 mit 1909 Schüler*innen (443 Primar-, 489 Unter-, 977 Mittelstufe) ergab, dass Lehrkraft-Beziehungen stärker als Peer-Beziehungen positiv mit Freude, Wert- und Kompetenzeinschätzungen sowie negativ mit Langeweile korrelieren. Zusammenhänge der Lehrkraft-Beziehung mit Emotionen fielen in der Sekundarstufe und bei Jungen höher aus, Korrelationen mit Peer-Beziehungen bei Mädchen.
Teilstudie 2 mit 1292 Sekundarstufenschüler*innen konnte starke Zusammenhänge zwischen der Beziehung zur Lehrkraft bzw. zu Peers und den jeweiligen interpersonalen Emotionen zeigen. Die Korrelationen waren für interpersonale Emotionen stärker als für unterrichtsbezogene.
Die Befunde erweitern den bisherigen Forschungsstand, indem sie eine differenzierte Betrachtung von Beziehungen und Emotionen zwischen Schulstufen und Geschlechtern bieten. Dies lässt auf die Bedeutung einer gezielten Förderung pädagogischer Beziehungen für das emotionale Befinden von Schüler*innen schließen.
Wie Schüler*innen die Bedürfnisunterstützung im Unterricht wahrnehmen – Eine latente Profilanalyse zur Rolle personen-, herkunfts- und leistungsbezogener Merkmale
Cornelia Gar1, Katja Scharenberg1, Juliane Schlesier2, Katrin Lohrmann1
1LMU München, 2Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Gelingende Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen basieren auf bedürfnisunterstützendem Unterricht (Klemm & Connell, 2004). Laut der Selbstbestimmungstheorie umfasst dieser Autonomieunterstützung, Struktur und Involvement (Stroet et al., 2013; Ryan & Deci, 2017). Studien zeigen, dass diese Unterstützung je nach Personen-, Herkunfts- und Leistungsmerkmalen der Schüler*innen variiert (Brandenberger et al., 2017; Hornstra et al., 2018, 2021; Lazarides & Watt, 2015).
Aufgrund der heterogenen Studienlage ist ein besseres Verständnis von Nöten, welche Gruppen von Schüler*innen welches Ausmaß an bedürfnisunterstützendem Lehrkraftverhalten wahrnehmen. Hierfür wird ein personenzentrierter Ansatz gewählt, um Schüler*innen-Profile von Bedürfnisunterstützung zu identifizieren (FF1) und deren Unterschiede hinsichtlich Geschlecht, Migrationshintergrund und Leistung zu analysieren (FF2).
Es werden Querschnittsdaten von 1.781 Schüler*innen zu Autonomieunterstützung, Struktur und Involvement (McDonald’s ω = .63-.85) im Mathematikunterricht sowie zu deren Personen-, Herkunfts- und Leistungsmerkmalen herangezogen.
Mittels latenter Profilanalysen konnten, unter Berücksichtigung der genesteten Datenstruktur, drei Schüler*innen-Profile mit unterschiedlichen Bedürfnisunterstützungsniveaus identifiziert werden. Diese unterscheiden sich signifikant nach Geschlecht, Migrationshintergrund sowie Mathematikkompetenz. Die in den Profilen ähnliche Ausprägung der Unterstützungsdimensionen gibt Hinweise auf eine wechselseitige Abhängigkeit dieser. Künftige Interventionen sollten dieses Zusammenwirken berücksichtigen und die Unterstützungsdimensionen nicht separiert voneinander behandeln. Zudem scheint ein hoch ausgeprägter bedürfnisunterstützender Unterrichtsstil, insbesondere für leistungsschwächere Schüler*innen-Gruppen, in der Praxis eher selten vorzukommen, wofür Lehrkräfte sensibilisiert werden sollten. Künftige Forschung sollte die Stabilität der Profile im Längsschnitt analysieren.
Bedürfnisunterstützung in der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrkräften und Schüler*innen: Was zeichnet schulische Fürsorge aus?
Fabian Schächt, Stefan Markus
Bergische Universität Wuppertal
Gelingende pädagogische Beziehungen zeichnen sich durch ein hohes Maß an "Caring" aus (Noddings, 2012). Die Lehrkraft (als Care-giver) und ihre Schüler*innen (als Care-taker) stehen in einer interdependenten Verbindung zueinander. Der Selbstbestimmungstheorie (Ryan & Deci, 2017) zufolge ist für eine positive Wahrnehmung dieser Beziehung die reziproke Unterstützung von Autonomie, Kompetenz und sozialer Verbundenheit von zentraler Bedeutung.
Die Interviewstudie beschäftigt sich mit der Frage, wie Lehrkräfte diese psychologischen Grundbedürfnisse ihrer Schüler*innen spezifisch unterstützen. Hierfür wurden 28 Lehrkräfte von „Best-Practice-Schulen“ problemzentriert interviewt. Die Auswertung erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring, 2022) in zwei Kodierphasen: Zunächst eine strukturierende Inhaltsanalyse anhand eines auf der Selbstbestimmungstheorie basierenden Kategoriensystems. Anschließend wurden die deduktiv kodierten Sinneinheiten mit der zusammenfassenden Inhaltsanalyse induktiv bearbeitet, um konkrete bedürfnisunterstützende Maßnahmen zu beschreiben.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Lehrkräfte die soziale Verbundenheit der Lernenden unterstützen, indem sie diese als eigenständige Person wahrnehmen, authentisch wertschätzen und über ihre Rolle als Schüler*in hinaus anerkennen. Dies zeigen sie u.a. durch Aufmerksamkeit und Zeit für die Lernenden. Lehrkräfte berichten im Falle von Konflikten und emotionalen Problemen der Lernenden häufig, diese prioritär zu behandeln, auch wenn dies zulasten der Unterrichtsinhalte geschieht. Kompetenzen werden vielfach durch konstruktives Feedback, Ermutigung sowie individuell passende Lernangebote unterstützt. Dagegen findet Autonomieunterstützung wenig Erwähnung bei den Lehrkräften. Insgesamt kann konstatiert werden, dass den konkreten Unterstützungshandlungen oftmals eine positive Wachstumshaltung (growth mindset) zugrunde liegt. Implikationen für die Professionalisierung von Lehrkräften werden diskutiert.