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Sitzungsübersicht
Sitzung
Pädagogische Beziehung als organisationale Beziehung. Reformschulen im biographischen Horizont ihrer Absolvent:innen
Zeit:
Mittwoch, 17.09.2025:
15:30 - 17:30

Chair der Sitzung: Sven Pauling, Universität Kassel
Ort: SR 2 = Raum 1111

Seminarraum 2 Raum 1111 im ersten Stock; 30 Personen

Symposium

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Präsentationen

Pädagogische Beziehung als organisationale Beziehung. Reformschulen im biographischen Horizont ihrer Absolvent:innen

Chair(s): Sven Pauling (Universität Kassel, Deutschland)

Die Beiträge des Symposiums analysieren pädagogische Beziehungsformationen im Feld von Reform- und Alternativschulen mit explizitem Reformanspruch auf der Grundlage qualitativer und quantitativer Daten und mit Bezug auf unterschiedliche Theoretisierungsoptionen. Die gemeinsame Stoßrichtung der Beiträge ist dabei eine Verschiebung der Frage nach der pädagogischen Beziehung, die in zweifacher Weise gewendet wird.

Erstens wird diese Beziehung – statt sie von der pädagogischen Tätigkeit her zu formulieren – von der Seite der Schüler:innen ausgehend – konkret aus der Perspektive von Absolvent:innen – in den Blick genommen. Diese Perspektivierung ist bei der Betrachtung der pädagogischen Beziehung nicht unbedingt üblich: Zwar existieren Forschungen zu Schüler:innen. In diesen wird allerdings eher sichtbar, wer oder was Schüler:innen in der Schule sind. Die Frage, was Schule für Schüler:innen ist, gerät erst seit kurzem in den Forschungsfokus (vgl. Bennewitz et al. 2022, S. 16f). So sind etwa die theoretischen Entwürfe professioneller Beziehungsgestaltung begrifflich auf die Tätigkeit von Lehrpersonen ausgerichtet: Konzeptionalisiert werden hier die Struktur ihres pädagogischen Handelns (z.B. Helsper 1996), der Aufbau ihrer Kompetenzen (Baumert & Kunter 2006) oder Entwicklungsaufgaben, die sie zu bewältigen haben (Hericks 2006). Und auch in der Absolvent:innenforschung wird in einem zumeist evaluativen Gestus eher die Frage der Wirkung der Schule mit Hoffnungen auf eine Weiterentwicklung entworfen als hinsichtlich etwa der Frage, wie Schüler:innen ihre Schule verbürgen.

Zweitens wird im Beitrag die pädagogische Beziehung nicht enggeführt auf ein personales Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen und entsprechend als situierte Interaktion entworfen (Schweer 2017). Vielmehr wird die Frage ins Zentrum gerückt, wie es sich zwischen Schüler:innen und ihrer Schule als pädagogische Organisation ausgestaltet.

Ausgangspunkt unserer Argumentation sind Befunde, nach denen Schüler:innen von Reformschulen nicht lediglich ihre konkreten Lehrpersonen als besondere signifikante Andere ansehen (Nittel 1992, S. 418f.). Sie beschreiben vielmehr ihre Schulen in Differenz zu anderen als besondere Sozialräume (Harring et al. 2022, 1358), in denen sich organisierte pädagogische Beziehungen von besonderer Qualität konstituieren und zugleich andere – oft positiv empfundene – pädagogische Generationsverhältnisse möglich sind, auf die Schüler:innen reagieren (müssen) (Randoll 2013; Randoll et al. 2017; Helsper 2017).

Diese reformpädagogischen Organisationen fassen wir projektübergreifend mit dem Schulkulturansatz (Helsper et al. 2001, Böhme et al. 2015) als Sinnordnungen, die inhaltlich sowohl hinsichtlich des Imaginären an z.B. öffentliche schulkritische Diskurse anschließen (Wunsch & Monecke 2022) als auch pädagogische Formen kultivieren, die einen "reformpädagogischen Code" (Idel et al. 2021) räumlich, materiell, sozial und medial ins Werk setzen. Die einzelnen Projekte decken dabei ein Spektrum an unterschiedlichen Reformschulen ab: Betrachtet werden Absolvent:innen von Waldorfschulen, einer prominenten staatliche Versuchsschule, einem staatlichen Schulversuch und einer Freien Alternativschule. Zum einen werden empirisch konkrete Figuren der Beziehungsgestaltung vorgestellt, zum anderen werden theoretische Begrifflichkeiten erprobt, mit deren Hilfe der Bezug auf die jeweilige Organisation anvisiert werden kann. Das Symposium antwortet damit auch auf das Desiderat theoretischer Perspektiven zu Schüler:innen (Bennewitz et al. 2022, S. 15).

Beitrag 1 bezieht sich dabei auf den Begriff der Emotionen, die einen an Waldorfschulen vorherrschenden imaginären Anspruch einer „Erziehung der Gefühle“ (Reichenbach 2017) markieren und in narrativen Interviews mit Absolvent:innen rekonstruiert werden können. In einem Wechselspiel der Emotionen entsteht, so die These des Beitrages, das, was als „Lernkultur der Nähe“ (Adam 2023) für die reformpädagogische Schule herausgearbeitet wird.

Beitrag 2 untersucht mit dokumentarisch analysierten Gruppendiskussionen den schüler:innenseitigen Umgang mit einer symbolisch partizipativ ausgestalteten Lernprozessbegleitung an einer prominenten Versuchsschule. Die Ergebnisse zeigen in Triangulation mit Ergebnissen aus der Absolvent:innenforschung der Laborschule (Gold & Zentarra 2023), dass Beziehungsgestaltung sowohl einen bedeutsamen Bedingungsfaktor für das Wohlbefinden von Schüler:innen und die gelingende Gestaltung von langfristigen Lernprozessen darstellt als auch begrifflich organisierte pädagogische Beziehungen in den Blick nimmt.

In den Analysen von Interviews mit Übergänger:innen und Absolvent:innen eines Schulversuchs werden in Beitrag 3 Theoretisierungsoptionen des neueren erziehungswissenschaftlichen Sorgediskurses (Dietrich 2020, 2024) und des Bourdieu‘schen Konzepts der „Komplizenschaft“ (Bourdieu 2000; Bühler-Niederberger 2011) genutzt, um die pädagogische Beziehung als eine Beziehung zur Organisation zu fassen. In generalisierten Sorgeverhältnissen formt sich die den Schulversuch verbürgende Komplizenschaft der Schüler:innen aus.

Beitrag 4 greift auf Interviewdaten einer Absolvent:innenstudie an einer Freien Alternativschule zurück, die adressierungsanalytisch ausgewertet werden (Reh & Ricken 2012). Die organisierte pädagogische Beziehung wird hier einerseits mit dem Begriff der Partizipation als imaginärer Bezugspunkt der Freien Alternativschule begriffen (Lischewski 2018), auf den Schüler:innen mit zu rekonstruierenden Modi der Verantwortungsübernahme reagieren (Kuhlmann 2023) und der andererseits einen Anlass der Selbstkonstruktion in der biographische Erzählung darstellt (Kleiner 2015).

 

Beiträge des Symposiums

 

Erzählte Emotionen und Affizierungen in reformpädagogischen Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen

Christiane Adam
Alanushochschule Studienzentrum Mannheim

Der Beitrag geht der Frage nach, wie der Sozialraum Waldorfschule und die darin situierte „Lernkultur der Nähe“ (Adam 2023) einen besonderen, emotionalisierten Beziehungsraum gestalten: In biographischen Erzählungen von Absolvent*innen von Waldorfschulen, die aus meiner fallrekonstruktiv vorgehenden (Rosenthal 1995) abgeschlossenen Dissertationsstudie stammen, schlagen sich intensive emotionale Aufladungen der pädagogischen Beziehungen nieder. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Lehrer*innen durch ein hohes pädagogisches Ethos (Prengel 2020) entworfen werden, aber auch normative Erwartungen und Zuschreibungen sowie einen Anspruch auf Gesamtformung (Idel 2007) inklusive einer „Erziehung der Gefühle“ (Reichenbach 2017) an Schüler*innen herantragen (Ullrich 1015). Die für die waldorfpädagogische Schulkultur (Helsper 2012) spezifischen intimen Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehungen werden bislang als unterschiedlich ausgestaltete, aber grundsätzlich asymmetrisch, auf Autorität und personaler Nähe basierend (Grasshoff et al. 2006; Helsper 2017) und im Rahmen von schulischen Entgrenzungs- und voraussetzungsreichen Passungsverhältnissen gedeutet (Idel 2007). Im rückblickenden Sprechen der Absolvent*innen wird aber deutlich, dass diese intensiven Affizierungen durchaus wechselseitig konzipiert werden, auch Lehrer*innen werden als emotional verstrickt und in Anerkennungsbedürftigkeit (Rabenstein/Idel 2023) von Schüler*innen erzählt. Darüber zeigt sich, dass sich Schüler*innen in emotionalisierten Beziehungen zur Schule als Ganzes involvieren. Die These des Beitrags lautet, dass dieses Wechselspiel von Erwartungen, Anerkennungsansprüchen und die daraus folgenden Resonanzen zu einer Emotionalisierung des schulischen Raums beitragen, Emotionen folglich einen sozialen Charakter erhalten (Illouz 2024) und eine zentrale Grundlage der „Wir-Gemeinschaft“ an Waldorfschulen bilden.

 

Ausgestaltung von Beziehungen im Kontext von Lernprozessbegleitung und Leistungsbeurteilung aus Schüler*innensicht

Yannik Wilke, Natalia Hofferber, Annette Textor, Johanna Gold
Universität Bielefeld

Die Ausgestaltung der Begleitung und Beurteilung von Lernprozessen enthält stets auch die Gestaltung pädagogischer Beziehungen (Wilke et al. 2023), dies gilt insbesondere auch an der untersuchten prominenten Versuchsschule (Textor et al. 2020). In diesem Bezug ist insbesondere die Perspektive der Schüler*innen auf ihre Schule und den Unterricht von großer Relevanz (u.a. Biermann 2019). Entsprechend wird aktuell im Rahmen eines BMBF-geförderten Projekts mittels der dokumentarischen Analyse von Gruppendiskussionen mit Schüler*innen (Bohnsack 2017) die partizipative Ausgestaltung des schulkulturell verankerten Umgangs mit der Lernprozessbegleitung analysiert. Diese Ergebnisse sowie die Ergebnisse einer Absolvent*innenstudie der Schule (Gold & Zentarra 2023) zeigen, dass die Beziehungsgestaltung ein hochbedeutsamer Bedingungsfaktor für das Wohlbefinden und die gelingende Gestaltung von langfristigen Lernprozessen ist. Im Vortrag werden die Ergebnisse beider Studien trianguliert und der Einfluss der Beziehungsgestaltung auf die Wahrnehmung der Lernprozesse in der Schule wird dargestellt. Die Formen der Beziehungsgestaltung werden vor dem Hintergrund der Ausgestaltung pädagogischer Arbeitsbündnisse und deren antinomischen Spannungsfelder reflektiert (Helsper 2021).

 

Sorge und Komplizenschaft. Zur Formation pädagogischer Beziehungen in einem Schulversuch

Till-Sebastian Idel
Universität Oldenburg

Die leitende Fragestellung des Beitrags lautet, wie von Schüler:innen eines Schulversuchs im retrospektiven Sprechen über ihre Erfahrungen pädagogische Beziehungen konturiert werden. Die empirische Grundlage zur Beantwortung dieser Frage bilden Einzel- und Gruppeninterviews, die im Rahmen der zehnjährigen Begleitforschung eines Schulversuchs entstanden sind (Huf & Idel 2025). Die Schulen praktizieren eine reformpädagogische Schulkultur in jahrgangsgemischten Lerngruppen in der organisationalen Langform von Klasse 1-10 ohne äußeren Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. Für den Beitrag werden Interviews (n=39) aus den Erhebungsjahren 2022 bis 2024 mit Übergänger:innen bzw. Absolvent:innen ausgewählt, d.h. Schüler:innen am Ende der zehnten Klasse und Ehemalige nach ihrem Wechsel in sich anschließende berufs- und allgemeinbildende Angebote der Sekundarstufe II. In ausgewählten Sequenzanalysen, die in Anlehnung an die konstruktivistische Grounded Theory Method (Charmaz 2014) erfolgten, zeigt sich die Kontur eines „Lehrer:innen-Kollektivs“ (Huf & Idel, 2024). Die Schüler:innen berichten von der gemeinsamen Erfahrung überindividueller, generalisierter Sorgeverhältnisse, in die sie eingebunden waren und die bestimmte Formen intensiver pädagogischer Beziehungsgestaltung und reziproker Verantwortungsübernahme in der Schule erwartbar werden lassen. Diese Sorgeverhältnisse können als Element der Organisiertheit des Pädagogischen bzw. des Pädagogischen der Organisation verstanden werden. Sie führen aus der Perspektive von Bourdieus Sozialtheorie zu Formen einer verbürgenden „Komplizenschaft“ (Bourdieu 2000; Bühler-Niederberger 2011) zwischen Schüler:innen und dem Schulversuch (Idel & Huf 2021). Der Vortrag gibt Einblick in das Datenmaterial und die gewonnenen Rekonstruktionen und diskutiert die Befunde schließlich in einem sorge- und schultheoretischen Kontext (Hartmann & Windheuser 2024; Dietrich 2020, 2024).

 

Verantwortungsmodi im Anspruchshorizont von Partizipation

Sven Pauling
Universität Kassel

Vielfach wird in der pädagogischen Diskussion als zentrales Moment für die Beziehungsgestaltung zur Schule die Möglichkeit zur Partizipation von Schüler:innen angesehen (Harring et al. 2022, S. 1371). Im Hinblick auf eine partizipative Beziehungsgestaltung wurde Schule allerdings in der Vergangenheit oft als defizitäres (prominent etwa Adorno 1971) und wird sie gegenwärtig als zumindest ambivalentes Projekt beschrieben (Abs & Moldenhauer 2021).

Auf Grundlage dieser Diskussion beschäftigt sich der Beitrag mit der Frage, wie Schüler:innen im Modus von Verantwortungsübernahme auf den Anspruch partizipativer Beziehungsgestaltung zur Organisation reagieren. Forschungsfeld stellt eine Freie Alternativschule dar, weil an dieser Schulform zum einen der partizipative Anspruch verstärkt normativ erhoben wird und sie zum anderen über mehr formale und juristische Möglichkeiten zur Gestaltung pädagogischer Beziehungen verfügt als Regelschulen (Lischewski 2018). Auf der Datenbasis einer laufenden Interviewstudie mit Abgänger:innen einer Freien Alternativschule (n = 12) werden im Zuge rekonstruktiver Subjektivierungsanalysen (Reh & Ricken 2012), die die Relationalität der Schüler:innensubjekte im sozialen Werden akzentuieren, verschiedene Modi der Verantwortungsübernahme in Anlehnung an Kuhlmann (2023) herausgearbeitet. Mit diesen reagieren Schüler:innen einerseits auf der Eben eines erzählten Ichs auf den Partizipationsanspruch. Andererseits kann in den Interviews der Selbstkonstruktion des erzählenden Ichs als „unabgeschlossenen Prozessen der Subjektivierung nachgegangen werden“ (Kleiner 2015, S. 150f).