Die Beiträge des Symposiums analysieren pädagogische Beziehungsformationen im Feld von Reform- und Alternativschulen mit explizitem Reformanspruch auf der Grundlage qualitativer und quantitativer Daten und mit Bezug auf unterschiedliche Theoretisierungsoptionen. Die gemeinsame Stoßrichtung der Beiträge ist dabei eine Verschiebung der Frage nach der pädagogischen Beziehung, die in zweifacher Weise gewendet wird.
Erstens wird diese Beziehung – statt sie von der pädagogischen Tätigkeit her zu formulieren – von der Seite der Schüler:innen ausgehend – konkret aus der Perspektive von Absolvent:innen – in den Blick genommen. Diese Perspektivierung ist bei der Betrachtung der pädagogischen Beziehung nicht unbedingt üblich: Zwar existieren Forschungen zu Schüler:innen. In diesen wird allerdings eher sichtbar, wer oder was Schüler:innen in der Schule sind. Die Frage, was Schule für Schüler:innen ist, gerät erst seit kurzem in den Forschungsfokus (vgl. Bennewitz et al. 2022, S. 16f). So sind etwa die theoretischen Entwürfe professioneller Beziehungsgestaltung begrifflich auf die Tätigkeit von Lehrpersonen ausgerichtet: Konzeptionalisiert werden hier die Struktur ihres pädagogischen Handelns (z.B. Helsper 1996), der Aufbau ihrer Kompetenzen (Baumert & Kunter 2006) oder Entwicklungsaufgaben, die sie zu bewältigen haben (Hericks 2006). Und auch in der Absolvent:innenforschung wird in einem zumeist evaluativen Gestus eher die Frage der Wirkung der Schule mit Hoffnungen auf eine Weiterentwicklung entworfen als hinsichtlich etwa der Frage, wie Schüler:innen ihre Schule verbürgen.
Zweitens wird im Beitrag die pädagogische Beziehung nicht enggeführt auf ein personales Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Schüler:innen und entsprechend als situierte Interaktion entworfen (Schweer 2017). Vielmehr wird die Frage ins Zentrum gerückt, wie es sich zwischen Schüler:innen und ihrer Schule als pädagogische Organisation ausgestaltet.
Ausgangspunkt unserer Argumentation sind Befunde, nach denen Schüler:innen von Reformschulen nicht lediglich ihre konkreten Lehrpersonen als besondere signifikante Andere ansehen (Nittel 1992, S. 418f.). Sie beschreiben vielmehr ihre Schulen in Differenz zu anderen als besondere Sozialräume (Harring et al. 2022, 1358), in denen sich organisierte pädagogische Beziehungen von besonderer Qualität konstituieren und zugleich andere – oft positiv empfundene – pädagogische Generationsverhältnisse möglich sind, auf die Schüler:innen reagieren (müssen) (Randoll 2013; Randoll et al. 2017; Helsper 2017).
Diese reformpädagogischen Organisationen fassen wir projektübergreifend mit dem Schulkulturansatz (Helsper et al. 2001, Böhme et al. 2015) als Sinnordnungen, die inhaltlich sowohl hinsichtlich des Imaginären an z.B. öffentliche schulkritische Diskurse anschließen (Wunsch & Monecke 2022) als auch pädagogische Formen kultivieren, die einen "reformpädagogischen Code" (Idel et al. 2021) räumlich, materiell, sozial und medial ins Werk setzen. Die einzelnen Projekte decken dabei ein Spektrum an unterschiedlichen Reformschulen ab: Betrachtet werden Absolvent:innen von Waldorfschulen, einer prominenten staatliche Versuchsschule, einem staatlichen Schulversuch und einer Freien Alternativschule. Zum einen werden empirisch konkrete Figuren der Beziehungsgestaltung vorgestellt, zum anderen werden theoretische Begrifflichkeiten erprobt, mit deren Hilfe der Bezug auf die jeweilige Organisation anvisiert werden kann. Das Symposium antwortet damit auch auf das Desiderat theoretischer Perspektiven zu Schüler:innen (Bennewitz et al. 2022, S. 15).
Beitrag 1 bezieht sich dabei auf den Begriff der Emotionen, die einen an Waldorfschulen vorherrschenden imaginären Anspruch einer „Erziehung der Gefühle“ (Reichenbach 2017) markieren und in narrativen Interviews mit Absolvent:innen rekonstruiert werden können. In einem Wechselspiel der Emotionen entsteht, so die These des Beitrages, das, was als „Lernkultur der Nähe“ (Adam 2023) für die reformpädagogische Schule herausgearbeitet wird.
Beitrag 2 untersucht mit dokumentarisch analysierten Gruppendiskussionen den schüler:innenseitigen Umgang mit einer symbolisch partizipativ ausgestalteten Lernprozessbegleitung an einer prominenten Versuchsschule. Die Ergebnisse zeigen in Triangulation mit Ergebnissen aus der Absolvent:innenforschung der Laborschule (Gold & Zentarra 2023), dass Beziehungsgestaltung sowohl einen bedeutsamen Bedingungsfaktor für das Wohlbefinden von Schüler:innen und die gelingende Gestaltung von langfristigen Lernprozessen darstellt als auch begrifflich organisierte pädagogische Beziehungen in den Blick nimmt.
In den Analysen von Interviews mit Übergänger:innen und Absolvent:innen eines Schulversuchs werden in Beitrag 3 Theoretisierungsoptionen des neueren erziehungswissenschaftlichen Sorgediskurses (Dietrich 2020, 2024) und des Bourdieu‘schen Konzepts der „Komplizenschaft“ (Bourdieu 2000; Bühler-Niederberger 2011) genutzt, um die pädagogische Beziehung als eine Beziehung zur Organisation zu fassen. In generalisierten Sorgeverhältnissen formt sich die den Schulversuch verbürgende Komplizenschaft der Schüler:innen aus.
Beitrag 4 greift auf Interviewdaten einer Absolvent:innenstudie an einer Freien Alternativschule zurück, die adressierungsanalytisch ausgewertet werden (Reh & Ricken 2012). Die organisierte pädagogische Beziehung wird hier einerseits mit dem Begriff der Partizipation als imaginärer Bezugspunkt der Freien Alternativschule begriffen (Lischewski 2018), auf den Schüler:innen mit zu rekonstruierenden Modi der Verantwortungsübernahme reagieren (Kuhlmann 2023) und der andererseits einen Anlass der Selbstkonstruktion in der biographische Erzählung darstellt (Kleiner 2015).